Warum ich in der AfD bin.

Weil viele Freunde und Familienmitglieder meinen beruflichen und ideellen Werdegang nicht nachvollziehen können, habe ich mich entschlossen, die wichtigsten Gründe für mein politisches Denken und Handeln aufzuschreiben.

Der Euro ist gescheitert

Ausgangspunkt meines politischen Engagements im Jahr 2013 war ein einfaches, weiterhin gültiges Argument: Eine Währungsunion kann ohne eine politische Union nicht funktionieren. Dafür gibt es zahlreiche historische Beispiele wie etwa den sächsischen Münzstreit von 1526, den Wertverlust des US-Dollars vor der Ratifizierung der amerikanischen Verfassung oder das Scheitern der lateinischen Münzunion im frühen 20. Jahrhundert. Für die europäische Union folgt daraus: Wenn sich in Europa keine politische Union realisieren lässt, dann muss auch die europäische Währungsunion aufgelöst werden. Angesichts der wachsenden EU-Skepsis in vielen europäischen Staaten halte ich die Realisierung einer politischen Union in Europa – zumindest auf demokratischem Weg – für ausgeschlossen. Die Währungsunion muss deshalb aufgelöst werden.

Die Auffassung, wonach eine Währungsunion ohne eine politische Union nicht funktionieren kann, wird auch von vielen EU-Befürwortern geteilt. Mit Verweis auf die kriegerische Vergangenheit unseres Kontinents schrecken diese Autoren jedoch vor einem Rückbau der Währungsunion zurück und plädieren stattdessen für die Realisierung der politischen Union, ohne allerdings zu konkretisieren, in welcher Form diese Union auf demokratischem Weg zu verwirklichen wäre. Diese Argumentationslücke hat einen einfachen Grund: Europaweit ist den Wählern die Übertragung nationalstaatlicher Souveränität an Brüsseler Institutionen nicht zu vermitteln, wie die EU schon in den gescheiterten Referenden zur europäischen Verfassung feststellen musste. Es war der Präsident der Europäischen Zentralbank Mario Draghi, der mit seiner Zusage, alles zu tun, damit die Währungsunion nicht auseinanderbricht, („whatever it takes“) dafür gesorgt hat, dass es nicht bereits 2012 zu einer ungeordneten Auflösung der Gemeinschaftswährung gekommen ist. Dass der Präsident einer Zentralbank Entscheidungen von solcher politischen Tragweite fällen kann, ist mit den Prinzipien demokratischer Willensbildung unvereinbar.

Auch ich bin mir bewusst, dass der Rückbau der europäischen Währungsunion zu unkalkulierbaren wirtschaftlichen und politischen Turbulenzen führen wird. Wenn jedoch eine politische Union nicht zu realisieren ist, weil die europäischen Völker nicht bereit sind, auf ihre historisch gewachsenen nationalen Identitäten zu verzichten, führt an dieser Entscheidung letztlich kein Weg vorbei. Als einzige Alternative bliebe, die Entscheidung weiter aufzuschieben und damit auf die aktive Gestaltung unserer politischen Zukunft zu verzichten. Das ist schlechterdings der Weg, den Bundeskanzlerin Merkel in den vergangenen Jahren gewählt hat. Dabei verhält es sich mit aufgeschobenen politischen Entscheidungen genauso wie mit aufgeschobenen privaten Entscheidungen: Je länger man sich vor einer Entscheidung drückt, desto höher sind die Kosten, die für Zögern und Unentschlossenheit zu tragen sind.

Corona als Auslöser einer neuen Eurokrise

Bis März 2020 hat die Europäische Zentralbank den regierenden EU-Befürwortern Zeit kaufen können, indem sie ihnen durch Zinssenkungen und Anleihekäufe die öffentlichkeitswirksame Verabschiedung von Rettungspaketen in den nationalen Parlamenten ersparte. Die panische Reaktion der Finanzmärkte auf die globale Ausbreitung des Coronavirus deutet allerdings darauf hin, dass eine neue Wirtschafts- und Finanzkrise bevorsteht, die dem fortgesetzten Aufschub einer Entscheidung über die Zukunft der Währungsunion entgegenstehen dürfte. In einer aktuellen Studie geht das Münchner ifo-Institut davon aus, dass die deutsche Wirtschaft um bis zu 20 Prozent einbrechen könnte.[1] Die strukturellen Defizite der Währungsunion, die seit der Eurokrise durch die expansive Geldpolitik der EZB notdürftig verdeckt worden sind, werden infolge des Börsenkrachs und der sich abzeichnenden Rezession wieder zum Vorschein kommen.

Mit Italien ist ausgerechnet jenes EU-Land am härtesten von Covid-19 betroffen ist, das sich schon lange vor Ausbruch der Pandemie als schwächstes Glied der europäischen Währungsunion erwiesen hatte. Das Virus trifft hier auf eine Gesellschaft, die sich von der Finanzkrise von 2008 nie erholt hat und nach wie vor unter den gravierenden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Folgen zu leiden hat: Das Bruttoinlandsprodukt ist unter das Niveau vor Einführung des Euros gefallen, die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei nahezu 30 Prozent und die berufliche Perspektivlosigkeit zwingt jedes Jahr 160.000 junge Italiener in die Emigration. Kein Wunder, dass die alten italienischen Parteien in der Bedeutungslosigkeit versunken sind und neue, EU-kritische Kräfte in Wahlen reüssieren konnten. In dieser explosiven Gemengelage verbreitet sich jetzt eine Seuche, die eine Weltwirtschaftskrise historischen Ausmaßes nach sich ziehen wird. Für die europäischen Währungshüter stellt sich nunmehr die Frage: Wie soll die instabile römische Regierungskoalition die italienischen Staatsschulden in Höhe von fast 135 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zurückzahlen können, wenn sie schon vor dem zu erwartenden Wirtschaftseinbruch nicht mehr zu tragen waren?

Wie schon im Jahr 2012 wird die europäische Zentralbank an den Anleihemärkten intervenieren und Staatsschulden in Höhe von mindestens 750 Milliarden Euro aufkaufen. Die Staatsschulden in der Bilanz der EZB werden sich dann auf über 3,3 Billionen Euro summieren.[2] In Ergänzung zur Geldpolitik hat die Bundesregierung ein Investitionsprogramm in Höhe von über 700 Milliarden Euro auf den Weg gebracht sowie weitere 500 Milliarden an Krediten der bundeseigenen Kreditanstalt für Wiederaufbau in Aussicht gestellt. Um die Größenordnung dieser Maßnahmen zu erfassen, hilft ein Vergleich mit dem deutschen Bundeshaushalt, der im laufenden Jahr Ausgaben in Höhe von 362 Milliarden Euro vorsieht. Andere Mitgliedsstaaten der EU strengen ähnlich umfangreiche Konjunkturprogramme an und in der Sitzung des EU-Rats am 26. März haben die Regierungen von Frankreich, Italien, Spanien, Portugal, Irland, Luxemburg, Belgien und Griechenland mit Unterstützung der EU-Kommission die Einführung von „Corona-Bonds“ gefordert. Wenn die Bundesregierung dieser Forderung nachkommt – und dem öffentlichen Druck dürfte in der gegenwärtigen Krisensituation kaum zu widerstehen sein – steht der Vergemeinschaftung der europäischen Staatsschulden nichts mehr im Weg.[3]

Armut durch Inflation

Für die Bürger in Deutschland und Europa werden diese Maßnahmen nicht ohne Folgen bleiben. Die expansive Geldpolitik der EZB hat bereits in der Vergangenheit zur Inflation der Vermögenspreise, also unter anderem zur Verteuerung von Immobilien oder Aktien geführt. Letztlich sind nicht nur die Börsenrallye der vergangenen zehn Jahre, sondern auch die steigenden Mieten in deutschen Städten eine Folge der weltweiten Flucht in Sachwerte. Wenn Immobilienkredite zu einem Zinssatz von 0,7 Prozent zu haben und Immobilienpreise z.B. in Hamburg im Jahr 2018 um 8 Prozent gestiegen sind, liegt die Rentabilität dieses Geschäfts auf der Hand. Nur profitieren von den niedrigen Zinsen in erster Linie Kapitalbesitzer, die aufgrund vorhandenen Wohlstands kreditwürdig sind und entsprechenden Zugang zu Krediten haben. Die expansive Geldpolitik der Zentralbanken ist daher wesentlich verantwortlich für die zunehmende soziale Ungleichheit und das Schrumpfen der Mittelschicht in Europa und den Vereinigten Staaten.[4]

Besonders hart betroffen von der Inflationierung der Währung sind die deutschen Rentner, die trotz ihres vergleichsweise hohen Renteneintrittsalters nur mit einer Durchschnittsrente von monatlich 896 Euro rechnen können. Im Gegensatz zu ihren südeuropäischen Altersgenossen besitzen sie in der überwiegenden Mehrzahl kein Wohneigentum und sind deshalb in höherem Maße auf eine langfristig stabile Währung angewiesen.[5] Aufgrund der ungünstigen demographischen Entwicklung ist davon auszugehen, dass sich das Problem der Altersarmut in Zukunft weiter verschärfen und eine humane Versorgung der zunehmenden Anzahl an pflegebedürftigen Senioren immer schwieriger wird. Spätestens wenn ab dem Jahr 2025 die geburtenstarken Jahrgänge[6] aus dem Arbeitsleben ausscheiden, wird sich zeigen, ob die Renten der Babyboomer von Zuwanderern erwirtschaftet werden können, die zu einem Drittel noch nicht einmal lesen und schreiben können. [7] Obwohl die Rentenkassen jedes Jahr mit über 100 Milliarden Euro aus Steuermitteln subventioniert werden, reicht die gesetzliche Rente schon heute für viele Menschen nicht mehr aus, um ihren Lebensunterhalt im Alter zu sichern.

Doch die Verarmung der Deutschen infolge der europäischen Währungsunion trifft nicht nur Rentner, sondern auch die jüngeren Generationen, was sich etwa an der stagnierenden Entwicklung der Reallöhne zwischen 2000 und 2012 nachweisen lässt.[8] Während die deutschen Arbeitnehmer seit der Einführung des Euros auf Lohnzuwächse weitgehend verzichtet haben und mit der Agenda 2010 deutliche Einschnitte bei den sozialen Sicherungssystemen hinnehmen mussten, konnten bei den Kapitalerträgen deutliche Zuwächse verzeichnet werden.[9] Da sich mittlerweile die Mehrheit der im DAX gelisteten Unternehmen in ausländischer Hand befindet, haben nicht die Deutschen von der europäischen Währungsunion profitiert, sondern die internationalen Eigner ehemals deutscher Konzerne.[10] Die niedrige Arbeitslosigkeit und der fragwürdige Titel des Exportweitmeisters sind letztlich mit der Ausweitung des Niedriglohnsektors und der Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse teuer erkauft.[11] Zwanzig Jahre nach der Einführung der Gemeinschaftswährung verfügen deutsche Haushalte über das geringste Nettovermögen der Eurozone[12] und werden gleichzeitig mit der zweithöchsten Steuer- und Abgabenquote weltweit belastet.[13] Ein Drittel der Menschen in unserem Land verdient so wenig, dass am Ende des Monats kein Geld für unerwartete Ausgaben oder die dringend erforderliche private Altersvorsorge übrig bleibt, womit Deutschland innerhalb der Eurozone wieder einmal an letzter Stelle steht.[14] Dass es der Bundesregierung trotz dieser ernüchternden Zahlen gelungen ist, den braven Deutschen zu erzählen, dass es ihnen so gut ginge wie nie zuvor und sie mit Gott und der Welt „solidarisch“ sein müssten, ist eine Meisterleistung der politischen Propaganda, wie sie in weniger staatsgläubigen Nationen undenkbar wäre.    

Konfliktursache Willkommenskultur

Neben der Eurokritik ist die Kritik an der Einwanderungspolitik der Bundesregierung ein zentraler Bestandteil der Programmatik meiner Partei und hat seit dem Sommer 2015 das abstraktere Gründungsthema in den Hintergrund verdrängt. Eurokrise und Migrationskrise haben jedoch dieselbe Ursache in der fehlerhaften Konstruktion der Europäischen Union: So wie die Eurostaaten die Souveränität über ihre nationalen Währungen an eine dysfunktionale supranationale Institution abgetreten haben, haben sie auch die Souveränität über ihre nationalen Grenzen auf eine dysfunktionale supranationale Institution übertragen. Mit Beginn der Flüchtlingskrise hat die Bundesregierung diesen Kontrollverlust als Gewinn ausgegeben und konnte sich dabei den Wunsch vieler Deutscher nach einer historisch unbelasteten postnationalen Identität zu Nutzen machen. Doch bei genauerer Betrachtung entblößt sich die stolze Pose kosmopolitischer Weltoffenheit als Ausdruck weltfremder Provinzialität: Schon eine oberflächliche Beschäftigung mit der Wirtschaftsstruktur oder dem Bildungssystem von Syrien, Irak oder Afghanistan hätte zur Einsicht führen müssen, dass die Zuwanderung von Menschen aus diesen Ländern zu keinem neuen Wirtschaftswunder, sondern zu steuerlichen Mehrbelastungen in Höhe von ca. 50 Milliarden Euro im Jahr führen würde.[15]

Wie dramatisch die Zuwanderung der vergangenen Jahre unser Land verändert hat, wird erst deutlich, wenn man die Zusammensetzung der jeweiligen Alterskohorten betrachtet. Während der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund in der Altersgruppe über 65 Jahren bei unter 10 Prozent liegt, haben deutschlandweit bereits 38 Prozent der Kinder und Jugendlichen unter zwanzig Jahren Migrationshintergrund.[16] In Städten wie Frankfurt, Berlin oder Stuttgart liegt dieser Anteil bei über 50 Prozent und dürfte angesichts der höheren Geburtenrate von Migrantinnen in den nächsten Jahren exponentiell steigen.[17] So bekommen syrische Frauen in Berlin im Durchschnitt mehr als fünf Kinder, wohingegen die Geburtenrate von deutschstämmigen Frauen in der Hauptstadt bei 1,38 Kindern liegt.[18] Sicherheitspolitisch bedenklich ist vor allem der gravierende Überschuss an Männern in der Alterskohorte zwischen 18 und 30 Jahren, der auf die Zuwanderung überwiegend männlicher Migranten aus Syrien, Irak und Afghanistan in den Jahren 2015 und 2016 zurückzuführen ist. Den insgesamt 6 Millionen jungen Männern in Deutschland stehen gegenwärtig nur 5,5 Millionen junge Frauen gegenüber, was sich erfahrungsgemäß nachteilig auf den inneren Frieden einer Gesellschaft auswirkt.[19]  

Um die Erfolgswahrscheinlichkeit einer gelingenden Integration der ca. 2,5 Millionen Zuwanderer seit 2015[20] realistisch einzuschätzen, hilft ein Blick auf die Erfahrung, die in der Vergangenheit mit der Integrationsbereitschaft von Migranten aus vergleichbaren Herkunftsländern gemacht wurden. In einer empirischen Studie aus dem Jahr 2013 kommt der Berliner Sozialwissenschaftler Ruud Koopmans zu dem Ergebnis, dass 65 Prozent der europäischen Muslime die religiösen Regeln der Scharia über die Gesetze des Staates stellen, in dem sie leben. Fast 60 Prozent halten Homosexualität für eine Sünde und 45 Prozent stimmen der Aussage zu, dass man „den Juden nicht trauen“ könne.[21] Auch bei der Integration muslimischer Migranten in den Arbeitsmarkt sieht es nicht besser aus: Im Jahr 2010 hatten 75 Prozent der Berliner mit türkischem Migrationshintergrund keinen Schulabschluss, jeder zweite lebte von Sozialleistungen.[22] Bei libanesischen Migranten, die aufgrund ihrer Herkunft am ehesten mit den Zuwanderern aus Syrien zu vergleichen sind, lag die Quote von Transferempfängern bei 90 Prozent.[23] Dabei hebt Koopmans ausdrücklich hervor, dass die hohe Arbeitslosigkeit muslimischer Migranten nicht auf eine vermeintliche rassistische Diskriminierung am Arbeitsmarkt zurückzuführen ist, sondern soziokulturelle Ursachen hat, die das Gelingen der Integration in westeuropäische Gesellschaften verhindern.[24]

Wie wenig türkischstämmige Migranten die liberalen Werte deutscher Migrationsbefürworter teilen, haben nicht zuletzt auch die türkischen Präsidentschaftswahlen im Jahr 2018 gezeigt. Zwei Drittel der Türken in Deutschland haben ihre Stimme Amtsinhaber Erdogan gegeben, der das Land am Bosporus schrittweise in eine islamistische Autokratie verwandelt hat, Europa mit der Flutung mit muslimischen Migranten droht und im Nahen Osten aber auch im Mittelmeer eine aggressive „neo-osmanische“ Expansionspolitik verfolgt. Auch die Partei der rechtsradikalen Grauen Wölfe (MHP) wurde von immerhin acht Prozent der Deutschtürken gewählt und bestimmt seit 2018 als Koalitionspartner der AKP die türkische Regierungspolitik.[25] Die Verbindung von Islamismus und türkischem Nationalismus in Strategie und Symbolik der AKP lässt sich regelmäßig bei den Deutschlandbesuchen von Erdogan oder seinen Ministern beobachten, die ihre Anhänger wahlweise mit dem Rabia-Gruß[26] der islamistischen Muslimbrüder oder mit dem Wolfsgruß[27] der türkischen Faschisten grüßen. Leider wollen sich die meisten Deutschen aus Angst vor ihrer Vergangenheit mit diesen Realitäten der Gegenwart nicht auseinandersetzen, weshalb in Berlin-Kreuzberg, Frankfurt-Bornheim oder Hamburg-Altona kein multikulturelles Miteinander, sondern ein von reziproker Ignoranz geprägtes Nebeneinander multipler Parallelgesellschaften entstanden ist: Während die bio-deutschen Grünenwähler[28] von einer Welt ohne Grenzen, der Rettung des Weltklimas oder fortschreitender Diversifizierung der Geschlechtsidentitäten träumen, wählen zwei Drittel ihrer türkischen Nachbarn fundamentalistische und rechtsradikale Parteien, die ihnen die Unterwerfung Europas durch ein islamistisches Kalifat unter osmanischer Führung versprechen.[29]    

Die Krise als Chance

Deutschlands glückliche Jahre sind vorbei. Wie lebende Organismen sind auch Staaten einer zyklischen Abfolge von Aufstieg und Niedergang unterworfen. In der Not werden die Reformmaßnahmen unternommen, die zu Wohlstand und Macht von Individuen und Gemeinschaft führen. Doch Wohlstand führt schließlich zu Überdruss und zum Verlust der Charaktereigenschaften und Institutionen, die ursprünglich den Ausweg aus Armut und Machtlosigkeit ermöglicht hatten. Der Aufstieg Deutschlands im 19. Jahrhundert hat mit den Preußischen Reformen nach der Niederlage in den Napoleonischen Kriegen begonnen. Hier wurden die institutionellen Grundlagen geschaffen, die zur wissenschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Blüte unseres Landes in der Gründerzeit geführt haben. Die Bundesrepublik verdankte ihren Wohlstand Innovationsvorsprüngen in Automobilbau, Elektrotechnik oder Chemie, die überwiegend bereits im Kaiserreich erreicht wurden und der deutschen Industrie bis heute einen kompetitiven Vorteil im globalen Wettbewerb verschafft haben. In Zukunftstechnologien wie künstlicher Intelligenz, 5G-Kommunikation oder Quantencomputern ist Deutschland dagegen nicht konkurrenzfähig, was sich auch an der niedrigen Bewertung hiesiger Unternehmen an den Kapitalmärkten ablesen lässt: Im Januar 2020 war der amerikanische Technologiekonzern Apple mehr wert als alle DAX-Unternehmen zusammen.[30]

Deutschland steht angesichts dieser Entwicklung vor gewaltigen Herausforderungen. Der preußische Reformer und Stratege Carl von Clausewitz beschreibt den „geordneten Rückzug aus einer unhaltbaren Position“ als die schwierigste militärische Operation. Das Gleiche gilt auch für politische Unternehmungen: Es ist keine Kunst, ein wirtschaftlich prosperierendes Land wie die BRD der Nachkriegszeit zu führen, weil soziale Konflikte auf bequeme Weise durch staatliche Transferleistungen befriedet werden konnten. Dagegen ist die Moderation gesellschaftlicher Konflikte in einem wirtschaftlich im Niedergang befindlichen Land ungleich schwerer. Die zunehmende soziale Ungleichheit infolge inflationärer Geldpolitik sowie der Wohlstandsverlust durch abnehmende Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie werden zu gesellschaftlichen Verteilungskämpfen führen, die entlang der ethnischen und religiösen Bruchlinien verlaufen dürften. In einigen Stadteilen Berlins, aber auch in Bremen, Essen oder Duisburg hat der deutsche Staat sein Gewaltmonopol bereits an kriminelle Parallelstrukturen verloren. Ich gehe davon aus, dass sich der hier zu beobachtende Staatszerfall weiter fortsetzen und Deutschland mittelfristig in seiner gegenwärtigen Form nicht zu halten sein wird.

Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit kann schmerzhaft und mit den ursprünglich gehegten Hoffnungen und Wünschen nicht vereinbar sein. Die Voraussetzung für eine nüchterne Beurteilung der Wirklichkeit ist insofern der Mut, weshalb ich meiner Partei im Wahlkampf 2013 den Mut zur Wahrheit auf die Fahnen geschrieben habe. Le courage de la vérité ist auch der Titel der letzten Vorlesung des französischen Philosophen Michel Foucault, der darin den Mut zur Wahrheit als notwendige Voraussetzung politischen Handelns beschreibt. Wer öffentlich die Wahrheit sage, gefährde die Deutungshoheit etablierter Interessen und Konventionen und setze damit seine soziale, berufliche und ökonomische Existenz, ja sogar sein Leben aufs Spiel. Ich hoffe, dass die jetzt beginnende Krise den Deutschen vor Augen führen wird, dass sie keineswegs die Profiteure der europäischen Währungsunion sind, sondern vor allem die Generation der Babyboomer auf diese Weise um die Früchte ihres Arbeitslebens gebracht worden ist. Ich hoffe auch, dass die Deutschen dann verstehen, dass Freiheit, Frieden und Wohlstand nicht selbstverständlich sind, sondern jeden Tag aufs Neue mit Mut und Entschlossenheit verteidigt werden müssen. Letztlich hoffe ich auch, dass die Deutschen durch die Erfahrung wirtschaftlicher und existenzieller Not ihr blindes Vertrauen in die politische Führung ablegen und wieder zurückfinden zu den Tugenden, die dieses Land einst zu einer führenden Kulturnation gemacht haben. Denn erst die Not zwingt zur vorurteilsfreien Betrachtung der Wirklichkeit und drängt zu den notwendigen Korrekturen im Denken und Handeln – wie auch der Dichter Hölderlin uns Spätgeborenen im Jubiläumsjahr verspricht:

Wohl ist Arkadien entflohen. 
Des Lebens bessre Frucht gedeiht 
durch sie, die Mutter der Heroen, 
Die eherne Notwendigkeit.

[1] https://www.ifo.de/node/53961

[2] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/427660/umfrage/bestand-des-erweiterten-anleihekaufprogramms-der-ezb/

[3] https://www.ft.com/content/c3e4db7e-c45a-4113-9bf6-d5d5580fa0ba

[4] https://www.sueddeutsche.de/geld/soziale-gerechtigkeit-so-verschaerfen-niedrige-zinsen-die-ungleichheit-1.2894399-0#seite-2

[5] https://www.statista.com/statistics/246355/home-ownership-rate-in-europe/

[6] https://www.welt.de/wirtschaft/article201825638/Arbeitsmarkt-So-laesst-sich-die-Babyboomer-Luecke-schliessen.html

[7] https://www.welt.de/politik/deutschland/article200480306/BAMF-Bildungsniveau-der-Zuwanderer-in-Integrationskursen-sinkt.html

[8] Vgl. Oliver Nachtwey, Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne, Berlin 2016, S. 126 ff.

[9] ebd.

[10] https://boerse.ard.de/aktien/auslaender-kassieren-die-meisten-dax-dividenden100.html

[11] Jedes vierte Beschäftigungsverhältnis ist atypisch bzw. prekär. Vgl.: Nachtwey 2016, S. 136 f.; Siehe auch: https://www.dgb.de/themen/++co++47c1623a-0755-11e8-8a09-52540088cada

[12] https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/armut-und-reichtum/ezb-umfrage-deutsche-sind-die-aermsten-im-euroraum-12142944.html

[13] https://www.welt.de/wirtschaft/article191736757/OECD-Studie-Bei-der-Steuerlast-gehoert-Deutschland-zur-Weltspitze.html

[14] https://www.welt.de/wirtschaft/article189283761/Sparverhalten-der-Deutschen-Fast-jeder-Dritte-hat-am-Monatsende-kein-Geld-mehr.html

[15] https://www.nzz.ch/meinung/kommentare/die-fluechtlingskosten-sind-ein-deutsches-tabuthema-ld.1316333

[16] Vgl. Statistisches Bundesamt, Bevölkerung mit Migrationshintergrund – Ergebnisse des Mikrozensus 2018,  Fachserie 1 Reihe 2.2, Wiesbaden 2019.

[17] https://www.nzz.ch/international/in-deutschen-staedten-geht-die-mehrheitsgesellschaft-zu-ende-ld.1492568

[18] https://jungefreiheit.de/politik/deutschland/2018/berlin-bevoelkerungswachstum-durch-auslaender/

[19] Vgl. Statistisches Bundesamt, Bevölkerung: Deutschland, Stichtag, Altersjahre, Nationalität, Geschlecht, Familienstand – Ergebnisse des Mikrozensus 2018, Wiesbaden 2019.

[20] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/28347/umfrage/zuwanderung-nach-deutschland/

[21] https://bibliothek.wzb.eu/pdf/2014/vi14-101.pdf

[22] https://taz.de/Schockierende-Zahlen/!5176721/

[23] https://www.nwzonline.de/politik/9-von-10-libanesen-beziehen-hartz-iv_a_1,0,728961993.html

[24] Ruud Koopmans, „Does Assimilation Work? Sociocultural Determinants of Labour Market Participation of European Muslims”, in: Journal of Ethnic and Migration Studies, Vol. 42, No. 2, S. 197-216.

[25] https://www.sueddeutsche.de/politik/wahlen-in-der-tuerkei-so-haben-die-deutschtuerken-gewaehlt-1.4028731

[26] https://www.sueddeutsche.de/politik/staatsbesuch-warum-erdogans-geste-provoziert-1.4148872

[27] https://www.welt.de/regionales/hamburg/article162704121/Tuerkischer-Minister-zeigt-umstrittenen-Wolfsgruss.html

[28] Die Partei der Grünen wird vor allem von Deutschen ohne Migrationshintergrund gewählt, während die AfD unter Wählern mit Migrationshintergrund größeren Zuspruch erfährt als unter Wählern ohne Migrationshintergrund. Vgl.: https://www.merkur.de/politik/landtagswahl-hessen-ere855992/landtagswahl-hessen-afd-bei-waehlern-mit-migrationshintergrund-staerker-waehlerwanderungen-lassen-cdu-und-spd-ausbluten-zr-10398084.html

[29] 2011 haben die Grünen in Altona einen antideutschen Rassisten türkischer Herkunft sogar zum Kandidaten für die Hamburger Bürgerschaft ernannt: https://www.mopo.de/hamburg/politik/staatsanwaeltin-erklaert-darum-darf-man-deutsche-als–koeter-rasse–beschimpfen-25941510

[30]https://www.handelsblatt.com/finanzen/anlagestrategie/trends/boersenwert-apple-ist-jetzt-wertvoller-als-alle-dax-unternehmen-zusammen/25484872.html